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Grisebach
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42 Anton Räderscheidt

1892 – Köln – 1970

„Haus Nr. 9“. 1921

Öl auf Holz. 66 × 54,4 cm (26 × 21 ⅜ in.) Unten rechts signiert und datiert: Anton Räderscheidt 21. Rück­seitig Etiketten der Ausstellungen Stuttgart 1971 und Valencia 1997/98 (s.u.). Das Gemälde wird vom Anton-Räderscheidt-Archiv, Köln, unter der Nr. 1921/001 in das digitale Werkverzeichnis aufgenommen (in Vorbereitung)

Provenienz

Privatsammlung, Hessen (1924 direkt vom Künstler erworben, seitdem in Familienbesitz)

Addendum/Erratum

Zusätzliche Literatur: Emilio Bertonati: Die neue Sachlichkeit in Deutschland. München, Schuler Verlagsgesellschaft, 1974, Farbabb. Tf. 33

EUR 350.000 - 450.000

USD 392.000 - 504.000

Verkauft für:

865.000 EUR (inkl. Aufgeld)

Herbstauktionen 2016

Ausgewählte Werke, 1. Dezember 2016

Ausstellung

Ausstellung „Neue Sachlichkeit“. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus. Mannheim, Städtische Kunsthalle, 1925, Kat.-Nr. 91 / Die neue Sachlichkeit. Ausschnitt aus der deutschen Malerei seit dem Expressionismus. Wander-Ausstellung der Städtischen Kunsthalle zu Mannheim. Dresden, Sächsischer Kunstverein, 1925 / Neue Sachlichkeit. Ausschnitt aus der deutschen Malerei seit dem Expressionismus. Zusammengestellt von der Direktion der Städtischen Kunsthalle zu Mannheim. Chemnitz, Kunsthütte, im Städtischen Museum, 1925/26, Kat.-Nr. 93 / Neue Sachlichkeit. Erfurt, Verein für Kunst und Kunstgewerbe; Dessau, Anhaltischer Kunstverein; Halle, Kunstverein, und Jena, Kunstverein, 1926 (ohne Kat.) / Realismus zwischen Revolution und Machtergreifung, 1919–1933. Stuttgart, Württembergischer Kunstverein, 1971, Kat.-Nr. 111, ganzseitige Abbildung S. 117 / Anton Räderscheidt (1892–1970). Retrospektive. Köln, Kölnisches Stadtmuseum, 1993, S. 163, Kat.-Nr. 5, S. 27 u. ganzs. Farbabb. S. 43 / Neue Sachlichkeit. Bilder auf der Suche nach der Wirklichkeit. Figurative Malerei der zwanziger Jahre. Mannheim, Städtische Kunsthalle, 1994/95, S. 170 u. S. 240, ganzseitige Farbabbildung S. 21 / Realismo Mágico. Franz Roh y la Pintura Europea, 1917–1936. Valencia, IVAM, Centre Julio González (u. a. O.), 1997/98, ganzseitige Farbabbildung auf dem fliegenden Vorsatz und auf S. 123 / La ville magique. Villeneuve-d´Ascq, Lille Métropole, Musée d´art moderne, 2012/13, Kat.-Nr. 88, ganz­seitige Farbabbildung S. 105 / De Melancholieke Metropool. Stadsbeelden tussen magie en realisme, 1925–1950. Arnhem, Museum voor Moderne Kunst, 2013/14 (o. Kat.) / New Objectivity. Modern German Art in the Weimar Republic, 1919–1933. Venedig, Museo Correr, und Los Angeles, Los Angeles County Museum of Art, 2015/16, S. 21, 180, 323 (Farbabb.) u. S. 339, ganzseitige Farbabbildung S. 174

Literatur und Abbildung

Ausst.-Kat.: Anton Räderscheidt. Werke der Jahre 1921 bis 1967. Köln, Kölnischer Kunstverein, 1967, o. S., m. Abb. (unter „Verschollene Werke“) / Horst Richter: Anton Räderscheidt. Recklinghausen, Verlag Aurel Bongers, 1972, S. 16, 17 u. S. 34, ganzseitige Farbabb. S. 41 / Ausst.-Kat.: Von Dadamax zum Grüngürtel. Köln in den 20er Jahren. Köln, Kölnischer Kunstverein, 1975, S. 133 (nicht ausgestellt) / Ausst.-Kat.: Stationen der Moderne. Die bedeutenden Kunstausstellungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Berlin, Berlinische Galerie, Museum für Moderne Kunst, Photographie und Architektur, Martin-Gropius-Bau, 1988/89, S. 223 und Abb. 6/11, S. 222 (nicht ausgestellt) / Anton Räderscheidt. Arbeiten aus der Sammlung Kasimir Hagen. Wesel, Niederrheinischer Kunstverein und Städtisches Museum, 1988, S. 7 (nicht ausgestellt) / Günter Herzog: Anton Räderscheidt. Köln, DuMont Buchverlag, 1991, S. 24, 26 und Farbabbildung 9, S. 20 / Ulrich Gerster: „... und die hundertprozentige Frau.“ Anton Räderscheidt 1925/1930. In: Kritische Berichte 4/92, S. 42-63, hier S. 61, Anm. 7 / N. N.: Gleitende Schwellform. Die Mannheimer Kunsthalle versucht eine große Reprise ihrer Epochen-Schau „Neue Sachlichkeit“ von 1925. In: Der Spiegel, 1994, Nr. 40, S. 251-252, hier Abb. S. 252 / Ferdinand von Schirach: Er hat es ihr versprochen. In: Grisebach. Das Journal. Heft 6, Berlin 2016, S. 60-61, m. Farbabbildung

Raffiniert und kühl erzählt Anton Räderscheidt, wie man gemeinsam allein sein kann „Ich bin 34 Jahre alt und in Köln geboren. Ich male den Mann mit steifem Hut und die hundertprozentige Frau, die ihn durchs Bild steuert.“ Diese programmatischen Sätze von Anton Räderscheidt aus dem Jahr 1926 fassen zusammen, womit sich der Künstler seit Beginn des Jahrzehnts beschäftigte. Er zeigt den modernen Mann und die moderne Frau, genauer gesagt das verheiratete Künstlerpaar Anton Räderscheidt und Marta Hegemann, das 1927 von dem berühmten Fotografen August Sander exemplarisch als solches porträtiert wurde. In den Jahren 1921 bis 1923 ist Räderscheidt, ähnlich wie kurzzeitig auch George Grosz und andere deutsche Künstler, beeinflusst von der italienischen Pittura metafisica und malt in traditioneller Lasurtechnik auf Holz anonyme Stadtkulissen mit leeren Straßen, monotonen Fassaden und mechanisch-puppenhaften Einzelfiguren. In unserem Hauptwerk von Anton Räderscheidt, dem „Haus Nr. 9“, treffen Mann und Frau vor dem Eingang aufeinander. Die Köpfe des Paares befinden sich etwa auf der Mittellinie des Bildformats. An der Mauerecke direkt über den beiden prangt die Hausnummer. Am Hildeboldplatz 9 in Köln wohnte das Paar Räderscheidt/Hegemann seit 1918, hier wurden seine Söhne geboren, fanden die Zusammenkünfte der Künstlergruppe „stupid“ statt, zu der neben Räderscheidt und Hegemann auch Franz W. Seiwert und Angelika und Heinrich Hoerle zählten: „Von unserer Armut damals kann man sich keine Vorstellung machen, von unserem Reichtum auch nicht“, erinnert sich die Malerin Marta Hegemann 1965. Das Bild lässt von aufgeheizten Diskussionen über Kunst und Politik nicht das Geringste ahnen. Im Gegenteil, es atmet Kälte, Stille, Schweigen. Der hohe, dunkle Eingang des Gebäudes führt nicht in die Tiefe des Hauses, denn die opake Fläche von brauner Farbe scheint jeden Zugang zu versperren. Die Dimensionen des Eingangs und der Fenster mit durchlaufendem Gesims charakterisieren das Gebäude als Gründerzeithaus, jedoch hat der Maler den typischen Fassadenschmuck eliminiert. Nur die helleren, aufgelockerten Farbpartien geben der Fassade eine Spur von Patina. Der Bürgersteig, auf dem das Paar platziert ist, bricht an der Hausecke ab, wird versperrt durch die hellbraune Fläche eines niedrigen, fensterlosen Anbaus. So wirkt der Trottoir wie ein bloßer Untersatz für Haus und Figuren, abgestellt im aseptisch reinen, scheinbar endlosen Raum von Straßenpflaster, Grünflächen und Himmel. Eine Landschaft, so sauber wie leblos, so leer wie scharfkantig. Mann und Frau tragen schlicht-elegante Straßenkleidung und stehen sich leicht versetzt gegenüber, ihre Silhouetten überschneiden sich kaum schulterbreit. Wir Betrachter können das Gesicht der Frau nicht sehen, und der Mann ihr gegenüber starrt geradeaus an ihr vorbei. Die Frau, im Gehrock und mit schwarzem breitkrempigen Hut, hält die Hände auf dem Rücken zusammen. Das metallische Dunkelgrün ihres Kostüms ist der stärkste Kontrast zu den Brauntönen der Umgebung. Der Mann verbirgt die Hand in der Tasche seines Jacketts und steht mit dem Rücken zur Hausecke. Diese ist als heller, messerscharfer Strich zwischen den schwarzen Hosenbeinen sichtbar und zielt in den Schritt. „Die geliebte Frau vereinigt alle Feinde: Lehrer, Vorgesetzte, Polizei, und was sonst noch die Allherrlichkeit des Mannes bedroht“ (Räderscheidt in: Richter, 1972, S. 17). Fühlt er sich von ihr gestellt, ja bedroht? Der Mann hat das Haus im Rücken, die Frau die Stadt - eine ikonografische Umkehrung der geschlechtsspezifischen Orte großstädtischer Öffentlichkeit in der Kunst der Moderne – Frau/Prostituierte an der Hausecke wartend, bei der der vorübergehende Mann/Freier stehen bleibt. Raffiniert inszeniert Räderscheidt die gemeinsame Einsamkeit der beiden, ihr sorgfältig inszeniertes Aneinander-Vorbeisehen, bei dem auch kleinste Details, etwa die Schuhspitze des Mannes, von beredtem Schweigen zeugen. Der Künstler hatte ein durchaus ambivalentes Verhältnis zur emanzipierten Weiblichkeit. Keinem anderen Künstler in den 1920er-Jahren wird die Selbstfindung, das prekäre Gleichgewicht von Nähe und Distanz zur Lebensgefährtin so monomanisch zum Problem wie Anton Räderscheidt. Dies ist sein großes Thema, das er in weiteren Bildern, wie „Begegnung“ oder “Selbstbildnis mit Frau“ bis 1923 durchspielt. Obgleich Räderscheidt außer in der eigenen Wohnung kaum ausstellt, wird der Kunstkritiker Franz Roh auf ihn aufmerksam und erwähnt ihn in seinem 1925 erschienenen Buch „Nachexpressionismus“. Im selben Jahr lädt Georg F. Hartlaub den Maler mit dem Bild „Haus Nr. 9“ und dem bis heute verschollenen Gemälde „Innenraum“ zu der wegweisenden Schau „Die Neue Sachlichkeit – Deutsche Malerei seit dem Expressionismus“ in der Mannheimer Kunsthalle ein. Der Durchbruch zur öffentlichen Anerkennung ist geschafft. In den folgenden Jahren entstehen weitere Hauptwerke Räderscheidts in jener Mischung aus Sachlichkeit und magischem Realismus, etwa die „Tennisspielerin“ (1926) oder „Drahtseilakt“ (1929). Thema bleibt das ungleiche Paar, die „hundertprozentige Frau“ als Sportlerin im Evakostüm im Gegensatz zum entkörperlichten „Mann mit steifem Hut“. Annelie Lütgens