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Grisebach
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34 Lyonel Feininger

1871 – New York – 1956

„Gelbe Gasse“ (auch „Gasse I“, „Yellow Lane“). 1932

Öl auf Leinwand. 100 × 80 cm (39 ⅜ × 31 ½ in.) Unten links signiert und datiert: Feininger 32. Auf dem Keilrahmen oben links mit Feder in Schwarz signiert, datiert und betitelt: Lyonel Feininger 1932 „Gasse I“

Provenienz

The Curt Valentin Gallery, New York / Mrs. Harry Jason, New York (1959) / Galerie Beyeler, Basel / Roman Norbert Ketterer, Campione d‘Italia (1973) / Sammlung Rheingarten (= Hans Grothe, Duisburg) / Galerie Thomas, München (1981) / Privatsammlung, Deutschland

EUR 1.000.000 - 1.500.000

USD 1.120.000 - 1.680.000

Verkauft für:

3.525.000 EUR (inkl. Aufgeld)

Herbstauktionen 2016

Ausgewählte Werke, 1. Dezember 2016

Ausstellung

Lyonel Feininger. Oakland (CA), Mills College Art Gallery, 1937, Nr. 9 / American Contemporary Paintings. New York, Lilienfeld Galleries, 1940 / Moderne Kunst VIII (aus dem Besitz der Galerie Roman Norbert Ketterer, Campione d‘Italia). Düsseldorf, Künstlerverein Malkasten, 1973, Kat.-Nr. 25, mit ganzseitiger Farbabbildung / Sammlung Rheingarten. München, Galerie Thomas, 1981, S. 35, ganzseitige Farbabbildung S. 34 / Lyonel Feininger. Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen, Druckgraphik. Kiel, Kunsthalle zu Kiel der Christian-Albrechts-Universität, 1982, Kat.-Nr. 19a

Literatur und Abbildung

Grisebach. Das Journal. Heft 6, Berlin 2016, S. 44-45, m. Farbabbildung

Wie Lyonel Feininger die alte Welt durch das Prisma der Moderne sah Wenn sich Lyonel Feininger dem Motiv der Stadt im frühen 20. Jahrhundert zuwendet, dann vereint er das traditionelle Bild der Alten Welt mit der Formensprache der Moderne. Die Brüche der Zeit erhalten in den Werken des deutschamerikanischen Malers ihre künstlerische Form. Die „Gelbe Gasse“ ist ein typisches Beispiel dafür: Feiningers prismatisch gebrochene Variante des Kubismus zerlegt Farben und Formen, Licht und Schatten, Fläche und Raum und fügt sie in einem polyphonen Bild der Wirklichkeit wieder zusammen. Hier sind es warm leuchtende Gelb- und Orangetöne, mit denen Feininger durch gemaltes Licht eine besondere Anmutung, eine eigene, durchaus musikalische Stimmung erzeugt: die abendliche Stunde in einer Stadt, einzelne Spaziergänger, kleine Figuren, über denen sich die hohen Fassaden der Gebäude erheben. Horizontale Linien lassen links und rechts die Häuser aufragen, Diagonalen bilden die Fluchtlinien der Gasse. Der Blick wird entlang dieser Gasse ins Zentrum des Bildes geleitet und trifft auf ein Gebäude mit Stufengiebel, halbrundem Blendbogen und einer in der Mittelachse angeordneten Lukenreihe – ein gotischer Speicher, wie er in den alten Handelsstädten Norddeutschlands zu finden ist. Dieser und die Häuser der Gasse sind aus Quadern und Pyramiden zusammengesetzt, wie sie schon in Feiningers epochalem Holzschnitt „Kathedrale“ von 1919 – dem Titelbild für das Bauhaus-Manifest und Symbol für die Vereinigung der Künste geführt von der Architektur – zu sehen sind. In warmem Licht feierlich inszeniert und mit den dunklen Fenstern zugleich geheimnisvoll verschlossen, steht der giebelgekrönte Speicher am Ende dieser „Gelben Gasse“, wie Lyonel Feininger sie 1932 malte. Es ist ein Jahr des Übergangs: Im Jahr zuvor hat Feininger die letzten Gemälde seines Halle-Zyklus fertiggestellt, im Herbst 1932 schließt der nationalsozialistische Stadtrat von Dessau das dortige Bauhaus, woraufhin Feininger 1933 nach Berlin übersiedelt und 1936 in die USA zurückkehrt. Bilder deutscher Städte, wie die „Gelbe Gasse“, bleiben von nun an Erinnerungen an eine andere, eine verlorene Welt. In diesen Übergangsjahren kommt eine ertragreiche Schaffensphase Feiningers zu ihrem Höhepunkt und zugleich zu einem Abschluss. Der 1871 als Sohn eines Gei- gers und einer Pianistin in New York geborene Feininger war 1887 nach Deutschland gekommen, um zunächst in Hamburg und dann in Berlin Malerei zu studieren. Seiner ersten Karriere als freier Karikaturist und Illustrator folgt die zweite als Maler. 1919 wird er als Meister an das neu gegründete Bauhaus in Weimar berufen. 1921 komponiert Feininger, dessen Sohn Laurence Organist wird, seine erste von 16 Fugen. Nach zwei Jahren Lehrtätigkeit „müde und erschöpft“, wie sich Feiningers Frau Julia rückblickend erinnert, entscheidet sich das Paar im Sommer 1921 zu einer Reise in verschiedene Städte Norddeutschlands. Die Wahl fällt auf Hildesheim, Lüneburg und Lübeck, Städte, von denen Julia und Lyonel Feininger wissen, „dass dort noch die alte Backsteingotik zu finden sein würde. [...] Feininger fühlte sich durch die Architektur dieser Städte angeregt - [...] durch die rhythmische Aufteilung dieser wunderschönen Fassaden alter Giebelhäuser [...] war es eine Offenbarung für jemand so sensibles wie Feininger, empfänglich für die Stimmungen jenseits dessen, was das bloße Auge sah“ (Julia Feininger: Gables, New York 1956, S. 4–5, zit. nach: Silke Radke-Weber: Alte Häuser. Lübeck-Lüneburg, in: Ausst. Kat. Lübeck 2013, S. 11-25, hier S. 11). Skizzen, sogenannte „Naturnotizen“, bilden auch hier die erste künstlerische Aneignung der Fassaden und Gassen. Die Verarbeitung in Zeichnungen, Aquarellen oder Gemälden folgt Wochen oder Monate, manchmal Jahre später. Einzelne dieser Motive, aus Studien und der Erinnerung gebildet, begleiten Feininger bis an sein Lebensende. Manche verweisen schon im Titel auf die exakte Vorlage und sind mit dem Namen der dargestellten Stadt bezeichnet. Andere bleiben im All- gemeinen wie „Shadow of Dissolution“, „Old World Architecture“, „Old Gables“ – oder eben „Gelbe Gasse“. Exakte Stadtansicht und verklärte Erinnerung an norddeutsche Backsteinarchitektur stehen im Werk Feiningers nebeneinander. Eine spielerische Verarbeitung findet das Thema in den Spielzeughäusern, die Feininger für seine Kinder und die von Freunden schnitzt. Wahrscheinlich greift Feininger auch für sein Gemälde „Gelbe Gasse“ auf eine oder mehrere Naturnotizen zurück, die auf seinen Reisen durch Städte deutscher Backsteingotik Anfang der 1920er–Jahre entstanden sind. Als er das Gemälde 1932 fertigstellt, wohnt er bereits seit sechs Jahren in einem der modernen Meisterhäuser des Bauhauses in Dessau – einer dreigeschossigen, kubischen Doppelhaushälfte, selbstverständlich ohne Treppengiebel. Unter dem Eindruck der sachlichen Bauhaus-Architektur entsteht auch eine Reihe stilisierter, streng linearer Stadtansichten, die Feininger seriell nummeriert: Stadt I, Stadt II et cetera. Eine moderne und visionäre Architektur, wie sie unter anderem das Bauhaus hervorbringt, schlägt sich auch in Feiningers Gemälde „Gelbe Gasse“ nieder. Wie in einem Hochhaus-Entwurf Mies van der Rohes (Abb.), ab 1930 Direktor am Bauhaus in Dessau, schießen auch die Fassaden der „Gelben Gasse“ in die Höhe. Die Linien und Formen dieser Stadtansicht erscheinen in ihrer prismatischen Brechung zeitlich und topografisch offen - traditionell verwurzelt und zugleich wegweisend modern.