Zum Inhalt springen
Grisebach
.
45 Max Beckmann

Leipzig 1884 – 1950 New York

„Bildnis eines jungen Mädchens (nicht vollendet)“. (Vor) 1939

Öl und Farbkreide auf Leinwand. 91,5 × 73 cm (36 × 28 ¾ in.)

Provenienz

Ehemals Stephan Lackner, Santa Barbara, Kalifornien (um 1939/1946 erworben, seitdem in Familienbesitz; 2012 bis 2015 Leihgabe im Schloßmuseum Murnau)

EUR 1.000.000 - 1.500.000

USD 1.120.000 - 1.690.000

Verkauft für:

1.225.000 EUR (inkl. Aufgeld)

Herbstauktionen 247-254

Ausgewählte Werke, 26. November 2015

Ausstellung

Max Beckmann. An Exhibition. Oakland, The Mills College Art Gallery, 1950, Kat.-Nr. 5 / Max Beckmann. Gemälde und Aquarelle der Sammlung Stephan Lackner, USA. Gemälde, Handzeichnungen und Druckgraphik aus dem Besitz der Kunsthalle Bremen. Bremen, Kunsthalle; Berlin, Akademie der Künste; Karlsruhe, Badischer Kunstverein e.V.; Wien, Wiener Secession; Linz, Neue Galerie der Stadt Linz, Wolfgang-Gurlitt-Museum, und Luzern, Kunstmuseum, 1966/67, S. 98, Kat.-Nr. 35, m. ganzs. Abb. / Max Beckmann, Retro-spektive. München, Haus der Kunst; Berlin, Nationalgalerie; Saint Louis, Art Museum, und Los Angeles, County Museum of Art, 1984/85 (außer Katalog) / Stephan Lackner, der Freund Max Beckmanns. München, Max Beckmann Archiv, in der Staatsgalerie moderner Kunst, 2000 (= Hefte des Max Beckmann Archivs 5, hrsg. v. Christian Lenz), S. 110 (Christiane Zeiller: Sammlg. Stephan Lackner; nicht ausgestellt) / Max Beckmann. Von Angesicht zu Angesicht. Leipzig, Museum der bildenden Künste, 2011/12, S. 72, Kat.-Nr. 193, ganzs. Farbabb. S. 206

Literatur und Abbildung

Stephan Lackner: Max Beckmann. „Der Regenbogen in meiner Tasche“. Ein Sammler erzählt. In: Epoca (München), 1967, Nr. 2, S. 42-57, hier Farbabb. S. 49 / Stephan Lackner: Ich erinnere mich gut an Max Beckmann. Mainz 1967, S. 89 (als „Portrait eines jungen Mädchens“ erwähnt in einem Brief Max Beckmanns an Stephan Lackner, 20.11.1939) / Stephan Lackner: Max Beckmann. Harry N. Abrams, New York 1977, S. 30-31, Abb. 31 auf S. 30; s. a. die engl. Ausgabe London 1991, a.a.O., und die deutsche Ausgabe Köln, DuMont, 1991 (zuerst Köln, DuMont, 1978), S. 31-32, S. 30, Abb. 31 / Klaus Gallwitz, Uwe M. Schneede und Stephan von Wiese (Hg.): Max Beckmann, Briefe. 3 Bde. München und Zürich, Piper, 1993–1996. Hier Bd. III (1937–1950), bearb. v. Klaus Gallwitz unter Mitarbeit von Ursula Harter, Brief 710, S. 66, Anm. S. 393 (der von Lackner 1967 erwähnte Brief) /Grisebach. Das Journal. Heft 5, Berlin 2015, S. 6-12, mit Abb

Unser Gemälde zeigt eine junge, attraktive Frau in einem Sessel sitzend. Der Bildausschnitt, die Haltung, das federleichte Kolorit und ihre traumverlorene Stimmung wirken französisch, sind nahe bei Henri Matisse oder Raoul Dufy. Max Beckmann malte das Bild im holländischen Exil. Begonnen, nicht vollendet ist es, jedoch vom Künstler in einem Brief an den späteren Besitzer erwähnt: „bei Marcell [d.i. Marcelle, Stephan Lackners Freundin in Paris] befinden sich aber unter anderen noch 2 unfertige – ein sehr dunkles ‘Kinder der Nacht‘ und ein ausgezeichnet[es] Portrait eines jungen Mädchens“ (Max Beckmann, Briefe, Band III,1937-1950, bearb. v. Klaus Gallwitz, München und Zürich, 1996, S. 66). Das Kunstwerk wurde von Stephan Lackner, geb. Ernest Morgenroth, einem engen Freund und großen Förderer Beckmanns, erworben und von ihm in die Emigration nach Amerika mitgenommen. Er trennte sich nie wieder davon. Schon 1933 hatte er in jugendlichem Alter ein erstes Beckmann-Bild gekauft, und mit der Zeit nannte er eine stattliche Sammlung von über sechzig Werken sein eigen. Lackner ließ sich 1940 nach längerer Suche mit seiner Frau in Santa Barbara nieder. „Beckmann erwähnte, er wolle es gelegentlich eines geplanten Aufenthaltes in Santa Barbara fertigmalen, doch starb er, bevor dieses und andere Projekte zur Ausführung kamen. Das Bild ist technisch von höchstem Interesse, es zeigt die erste Anlage der Untermalung, die probeweise aufgetragenen Pastellfarben, die zwei verschiedenen möglichen Stellungen des linken Beines. Die fast hingehauchte Umrißzeichnung wirkt in sich schon vollkommen.“ (Stephan Lackner im o.g. Ausst.-Kat. Bremen 1966/67, S. 98). Der Sohn Stephan Lackners, Peter, erinnert sich: „Schon in meinem zehnten Lebensjahr, als ich ein neues Klavierstück einüben sollte, schaute ich des öfteren auf das von Beckmann nie zu Ende gemalte ‘Bildnis eines jungen Mädchens‘, das über unserem Flügel hing. Meine Motivation, weiter zu üben, wurde immer wieder durch die Erkenntnis bestärkt, daß auch Beckmann kämpfen mußte, um seine Kunst ins Leben zu rufen, daß auch für ihn der kreative Vorgang mehrere langwierige Etappen mit anstrengenden Versuchen und Korrekturen beinhaltete, bis ein Werk reif, vollkommen und präsentierbar war.“ (Ausst.-Kat. Max Beckmann. Von Angesicht zu Angesicht. Leipzig, Museum der bildenden Künste, 2012, S. 72/73). EO Warum Max Beckmann dieses junge Mädchen in vollendeter Schönheit erschien Es gibt im Gesamtwerk der großen Maler ganz selten einen Moment, in welchem sie das Fenster zu ihrem Innenleben kurz offen lassen, zu groß ist die Angst, dass ein Windhauch das innere Feuer auslöschen könnte. Bei Max Beckmann, der sein Hemd immer bis oben zuknöpfte und den Mantel zeitlebens so hoch schloss wie seine Seele, sind diese Momente besonders rar. Hier haben wir einen besonders kostbaren vor uns, er heißt, weil man es nicht genauer weiß, „Das Bildnis eines jungen Mädchens“, entstanden im Exil in Amsterdam um das Jahr 1939. Es gibt hier eine Zartheit in der Malerei, eine ungebrochene Hinwendung zu dem Modell, die sicherlich zunächst der Tatsache geschuldet ist, dass das Bild nicht vollendet scheint. Es ist, als ob Max Beckmann hier zunächst ganz unbewusst den Malprozess stoppte, als er es so jung und zart und gegenwärtig auf die Leinwand geworfen hatte. Als wollte er einmal unschuldig bleiben – gegenüber seiner Erinnerung. Denn auch als er später in Amerika die Gelegenheit dazu hatte, das Werk fertig zu malen, abzuschließen, zu signieren – da verzichtete er darauf, diesmal ganz bewusst. Er merkte offenbar selbst, dass dieses „Bildnis eines jungen Mädchens“ ein ganz seltenes Dokument in seinem OEuvre darstellte, weil es den frühesten Moment der Bildfindung kostbar für immer in sich bewahrt. Dieses heitere Bild entstand in einer bedrückenden Zeit für Beckmann. Kaum aus Berlin ins holländische Exil geflüchtet, saß er nun dort in Amsterdam erneut fest, weil die Deutschen auch sein Exilland besetzt hatten. Die Reisen an die französische Riviera, die für ihn in den frühen 1930er Jahren zu einer neuen Lebens- und Bildquelle geworden waren, musste Beckmann abrupt einstellen. Die letzte Reise an die französische Mittelmeerküste 1938 hatte Beckmann mit Stephan Lackner unternommen – und es ist deshalb nur konsequent, dass das „Bildnis eines jungen Mädchens“, das den leicht beschwingten Geist eines Frühsommerabends am Meer in sich trägt, ein Herzstück in Lackners überragender Sammlung wurde. In einem faszinierenden und anrührenden Filmdokument von Peter Lackner steht der Vater Stephan im Jahr 1992 vor Beckmanns Gemälde in seinem Haus in Santa Barbara in Kalifornien, wohin er in den 1940er Jahren emigriert war und wo er zum großen Beckmann-Exegeten wurde. Hinter ihm sieht man das „Bildnis eines jungen Mädchens“ an der Wand – und dann blickt Lackner unvermittelt aus dem Fenster, hinaus auf die Palmen Kaliforniens, und plötzlich scheinen die Sehnsuchtsorte Beckmanns und der Sehnsuchtsort Lackners miteinander zu verschmelzen in jenem harten, wehmütigen Sound, wenn der Wind durch die Palmblätter weht. Seine Romantik verbarg Beckmann perfekt unter seiner rauen Schale - und selten zeigt er sie so unverblümt wie in unserem „Bildnis eines jungen Mädchens“. Es folgt ja bereits als Bildtopos ganz den Kompositionen der Romantik, auch wenn die jungen Damen, die in einem gotischen Fensterausschnitt Briefe lesen, damals noch meist hinab ins Elbtal blickten. Aber mit den Jahrhunderten ändern sich eben auch die Sehnsuchtsorte. Und auch die Perspektive verschiebt sich – der Maler zeigt nicht mehr den Fensterrahmen als zweiten Bildrahmen, es gibt keine Trennung zwischen innen und außen, er ist wie mit einem Zoom der Portraitierten sehr nahe gerückt, es scheint, als stünde seine Staffelei direkt vor ihr auf dem winzigen Balkon, damit auch er in demselben Sommerwind steht wie sie. Aber das ist eben alles nur eine Illusion – denn in Wahrheit war Beckmann in jenen Jahren den Balkonen zum Mittelmeer so weit entrückt wie nie zuvor. Doch Imagination kennt keine Grenzen und keinen Sicherheitsabstand zur Wirklichkeit. Es ist also ein ganz altes Bildmotiv, das da in Amsterdam in den Jahren 1938 oder 39 in Beckmann aufsteigt – und offenbar ein ganz junges. Denn diese Frau ist nicht nur ein Symbol, sondern ganz sicher eine bestimmte Frau. Selbst Stephan Lackner sagte dazu einschränkend: „Man weiß nicht, wer die Dame ist, oder ich weiß es jedenfalls nicht.“ Natürlich wusste Beckmann, wen er hier in idealer Unschuld malte. Aber zugleich ist die Situation, in der er das junge Mädchen zeigt, eine Imagination. Stephan Lackner erzählte von den gemeinsamen Reisen an die Mittelmeerküste mit Max Beckmann, dass dieser immer einmal stehen blieb und die Augen fast zukniff, als wollte er für seine Erinnerung ein Motiv festhalten. Genau so wird er auf die junge Frau geschaut haben, wird ihren Blick ins Nichts gespeichert haben – für jenen kostbaren Moment in seinem dunklen Atelier in Amsterdam, als er in Windeseile mit schnellen, sicheren Strichen diesen Frauenk.rper auf den Stuhl platzierte. Und ihm plötzlich aus dem Bild ein warmer französischer Sommerwind entgegenzublasen schien. Als er ihn spürt, legt er den Pinsel zur Seite. Und lässt so seiner jungen Frau jene Unschuld, die sie einzigartig macht. Florian Illies