Grisebach Schweiz freut sich in der vierten Ausgabe der Ausstellungsreihe Travel logs unter dem Titel Four Portraits, an Abstract and Two Figures eine Auswahl von Werken von Tobias Spichtig zu präsentieren. Tobias Spichtig (geb. 1982, Luzern, Schweiz) ist ein in Paris und Berlin lebender Künstler. Er lässt sich von der Welt der Mode, des Theaters und der Musik inspirieren und arbeitet in verschiedenen Medien, darunter Malerei, Skulptur, Installation und Fotografie. Er verbindet glitzernde Warhol-Ästhetik mit einem scharfen, subversiven Blick auf die zeitgenössische Kultur und verwischt voller Intimität die Grenzen zwischen dem Alltäglichen und dem Glamourösen, zwischen dem Individuum und dem Kollektiv.
Über die Ausstellung
RADIKALE PRÄSENZ
Text Dorothea Strauss, Kuratorin und Transformationsexpertin, Zürich
Gefühle zu offenbaren, ist eine Herausforderung – und die Arbeiten von Tobias Spichtig laden uns ein, genau dies zu wagen. Sie wirken fragil wie Gedanken, die eine klare Form gefunden haben und doch jeden Moment wieder in ihre Einzelteile zerfallen könnten. Spichtigs Arbeiten fordern uns dazu heraus, uns selbst in ihnen zu erkennen – in unserer Zerbrechlichkeit, unserem Mut und unserer Sehnsucht.
Eine neue Ausstellung vorzubereiten, heisst für Tobias Spichtig, intensiv in seine Bildwelten einzutauchen. Zunächst baut er immer ein Modell des Ausstellungsraumes. Erste Skizzen entstehen, die er dann in sein Modell pinnt. Dieser Prozess ist konzentriert, intensiv – und immer darauf ausgerichtet, etwas Unverfälschtes, Unmittelbares zu schaffen.
Als ich mich mit Tobias Spichtig im Vorfeld zu seiner Ausstellung austausche, sind die meisten seiner Bilder noch im Entstehen. Non-finito kommt mir in den Sinn. Dieser Begriff, der das Unfertige, das Nichtausgeführte bezeichnet, hat in der Kunst eine lange Geschichte: Er ist eng verbunden mit der Bildhauerei und insbesondere den ersten Handzeichnungen des 15. Jahrhunderts. Die Künstlerinnen und Künstler gingen davon aus, dass die Betrachtenden, die in der Zeichnung lediglich angedeuteten Formen selbst erahnen und somit sehend vervollständigen würden. Eine Hommage, wenn man so will, gegenüber der Unabgeschlossenheit der sich stetig wandelnden Natur. Im 20. Jahrhundert, als sich das Non-finito mit der abstrakten und figurativen Kunst längst als eine eigene ästhetische Kategorie etabliert hat, erforschten Neurologen, wie unser Gehirn in der Lage ist, Unvollständiges zu vervollständigen. Dabei zeigte sich, dass unsere Wahrnehmung und unsere Vorstellungskraft – egal ob visuell, akustisch oder haptisch – auf das Engste miteinander verknüpft sind.
Das Unvollkommene übt eine geradezu magische Anziehungskraft aus, denn es animiert uns dazu, uns auf das Spiel der möglichen Vervollständigung einzulassen. Tobias Spichtig weiss das. Seine Bildmotive, seine Malerei und die Skulpturen öffnen einen irisierenden Resonanzraum für unsere Sehnsucht nach verborgenen Geschichten und unausgesprochenen Möglichkeiten. Spichtig nennt es «radikale Präsenz» und beschreibt damit die Kraft des Augenblicks, des Unmittelbaren und des Unabgeschlossenen.
Tobias Spichtig liebt Echoräume – aus der Kunstgeschichte ebenso wie aus der Popkultur oder der Alltagswelt. Vor allem fühlt er sich fest verankert im Jetzt, in seiner eigenen Zeit. Er beobachtet und lebt die Glücksversprechen des Konsums, goutiert den Hochglanz unserer ästhetisierten Wirklichkeit und stellt sich immer wieder die Frage: Was sind unsere wahren Sehnsüchte? Ihn interessieren Positionen wie die von Francis Bacon zum Beispiel, von Andy Warhol oder auch Carol Rama nicht als Vorbilder, sondern als Inspirationsfelder für mögliche Antworten auf diese Frage.
Die Arbeiten von Tobias Spichtig reflektieren auf ganz eigene, melancholische und fragile Weise unser heutiges Lebensgefühl zwischen Lust, Frust und der ständigen Suche nach Orientierung
Über den Künstler
Tobias Spichtigs Werke wurden international ausgestellt in der Kunsthalle Basel, Basel; Lafayette Anticipations, Paris; KW Institute for Contemporary Art, Berlin; KINDL - Centre for Contemporary Art, Berlin; Swiss Institute, New York; Boros Foundation, Berghain, Berlin; Kaleidoscope, Spazio Maiocchi, Milan; Centre d'art contemporain - la Synagogue de Delme, Delme; SALTS, Basel; Museum Folkwang, Essen; Dortmunder Kunstverein; Malta Contemporary Art, Valletta; Museum of Contemporary Art, Belgrade; Hammer Museum, Los Angeles; Kunsthalle Wien, Vienna; Ludlow 38 (Goethe-Institut), New York; Ursula Blickle Foundation, Karlsruhe; and Witte de With Center for Contemporary Art, Rotterdam.