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Caspar David Friedrich

Winterauktionen 2023

Ein Kleinod deutscher Zeichenkunst:

Das Karlsruher Skizzenbuch von 1804 von Caspar David Friedrich

von
Christina Grummt

An einem Frühlingstag im Jahr 1804 schlug Caspar David Friedrich sein Skizzenbuch auf, nahm einen Pinsel und überzog drei Viertel einer Seite mit sorgfältig ausgeführten waagerechten Pinselstrichen (Abb. 13). Das obere Viertel des Blattes ließ er weiß. Er wartete, bis die braune Lasur vollständig getrocknet war, legte sich inzwischen seine Bleistifte zurecht und richtete seine Aufmerksamkeit auf einen kleinen Baum mit einem Doppelstamm und feinem Astwerk, der vor ihm in der Landschaft stand und den er an diesem Tag zeichnen wollte. Dann nahm er einen gespitzten Bleistift mit niedrigem Härtegrad zur Hand und begann zu zeichnen. Als er mit der Studie fertig war, notierte er sich auf dem Blatt unten links: „Kleiner Baum / den 13. Aprill / 1804“.

Nach Untersuchung des Papierbefundes konnte das Münchner Blatt „Kleiner Baum“ (Abb. 13.) dem Karlsruher Skizzenbuch von 1804 zugeordnet werden, das aus dem Nachlass von Georg Friedrich Kersting stammt und zu dem sich nach derzeitigem Stand der Forschung neunundzwanzig Blätter (G 384 – G 412) nachweisen oder zumindest (bei verschollenen Blättern) unter Vorbehalt benennen lassen. Das Karlsruher Skizzenbuch von 1804 gehört zu den derzeit bekannten zwanzig Skizzenbüchern von Caspar David Friedrich, einem der bedeutendsten Künstler der deutschen Romantik, die derzeit bekannt sind. Es ist zugleich das älteste der sechs noch gebunden erhaltenen Skizzenbücher dieses Künstlers (G 422, G 530, G 555, G 722, G 812).

Neben dem eingangs erwähnten Blatt finden sich im Karlsruher Skizzenbuch von 1804 nicht weniger als acht ähnlich grundierte Bleistiftzeichnungen (G 383 ff.). Dies ist insofern ungewöhnlich, als der Künstler den Bleistift in seinem Frühwerk bevorzugt zum Anlegen einer Vorzeichnung (siehe beispielsweise: G 327, G 336) verwendet hat. Dies gilt auch für die Blätter des Kleinen Mannheimer Skizzenbuches von 1800–1802 (G 240 ff.) ebenso wie für Blätter der Berliner Skizzenbücher I und II von 1799/1800 (G 100 ff. und G 165 ff). Jedoch sind die grundierten Bleistiftzeichnungen des Karlsruher Skizzenbuches von 1804 keineswegs die ersten Zeichnungen dieser Art im zeichnerischen Werk von Caspar David Friedrich. Bereits im Kleinen Skizzenbuch II von 1803 (G 348 ff.) lassen sich lichtbraun grundierte Blätter, auf denen mit Bleistift gezeichnet wurde, nachweisen. Es stellt sich aber die Frage, welches Ziel der junge Zeichner damit verfolgte, dass er die Bleistiftlinien auf die Lasur setzte.

Eine Antwort lässt sich sowohl mit Blick auf weitere Seiten des Karlsruher Skizzenbuches von 1804 als auch auf andere Blätter seines zeichnerischen Œuvres finden. Caspar David Friedrich zählt zu ebenjenen Künstlern, die früh ihre ureigene künstlerische Form entwickeln und diese im Verlauf ihres Werkes im Hinblick auf deren Qualität in höchstem Maße zu steigern verstehen, indem sie sie beständig vervollkommnen. Dies gilt es im Folgenden anhand exemplarisch ausgewählter Beispiele zu veranschaulichen.
Wie das Blatt „Kleiner Baum“ (Abb. 8 G 388), datiert vom 25. April 1804, verdeutlicht, arbeitet Friedrich hier mit Bleistiften verschiedener Härtegrade, um den auf der rechten Blatthälfte dargestellten Baum als das ästhetisch wirksame Zentrum des Blattes hervorzuheben. Das gelingt dem Zeichner durch Zweierlei: Erstens hebt sich der Baum durch eine akzentuiert gezeichnete Lineatur im Blatt hervor und zweitens wird eine gezielt eingesetzte Hell-Dunkel-Verteilung wirksam. Im Ergebnis dieser Zeichenweise erscheint der dargestellte Baum dem Betrachter in grösserer Nähe als die übrigen dargestellten Gegenstände auf dem Blatt. Dies ist insofern verblüffend, als die räumliche Zuordnung des Baumes keineswegs über einen perspektivisch begründeten Bildraum als solchen, sondern allein über die Qualität der Lineaturen erfolgt.

Friedrichs Experimentieren mit den Linien soll noch weiter gehen: Als er einen Monat später, und zwar am 26. Mai 1804, das Blatt „Landschaftsstudie“ (Abb. 14 G 407) zeichnet, verzichtet er auf eine ganzflächige Grundierung zugunsten von gezielt in Teile der landschaftlichen Darstellung einbezogenen Lasuren. Worin sich diese innovative Landschaftsstudie von vergleichbaren früheren Landschaftsstudien im Einzelnen unterscheidet, sei im Folgenden kurz erläutert: Wenn wir die „Landschaftsstudie“ (Abb. 14 G 407) dem Dresdener Blatt „Mittelgebirgslandschaft mit Brücke und Kapelle“ (Abb. 15 G 356) gegenüberstellen, fallen zwei Dinge besonders auf: Erstens lässt sich für die ein Jahr früher entstandene Mittelgebirgsstudie für die Darstellung von Vorder-, Mittel-, und Hintergrund ein Wechsel von Dunkel zu Hell festmachen. Und zweitens finden sich über das gesamte Blatt mit der Feder konturierte Flächen verteilt. Während im Vordergrund und vor allem im Mittelgrund mit der Feder ausgeführte Binnenstrukturlinien sichtbar werden, verzichtet der Künstler im Hintergrund auf jegliche Binnenstrukturierung. Im Gegensatz dazu verfährt Friedrich bei der „Landschaftsstudie“ vom 26. Mai 1804 (Abb. 14 G 407) gänzlich anders, und zwar hebt er in dieser Landschaftsdarstellung das Raumkontinuum bestehend aus Vorder-, Mittel- und Hintergrund insofern auf, als er über einen sehr hellen und zudem nur flüchtig angedeuteten Vordergrund hinweg den Blick des Betrachters auf lichtbraun gehaltene Partien im Mittel- und Hintergrund lenkt. Markant ist jedoch ein Landschaftsstreifen im Mittelgrund, der durch aufliegende Bleistiftlinien in Form von Parallelschraffuren und Strichelkonturen akzentuierend hervorgehoben wird.
Zu welchen künstlerischen Höhen Friedrich diese Zeichenmethode in seinem späteren Werk zu bringen vermochte, sei unter Hinweis auf das in Privatbesitz befindlichen Blatt „Studie eines Waldbaches“ (G 627) und das Hamburger Blatt „Eingang im Kloster Heilig Kreuz in Meissen (Abb. 16 G 854) hier nur angedeutet. Der Bleistift war für Caspar David Friedrich inzwischen längst zu einem Zeichenmittel geworden, das der Künstler einsetzte, um Flächen ästhetisch wirksam zu strukturieren. Die grundierten Bleistiftzeichnungen des Karlsruher Skizzenbuchs von 1804 können folglich als eine frühe Form dieser Zeichentechnik verstanden werden.

Zwei einzigartige Erfindungen mögen Caspar David Friedrich als Zeichner in entscheidendem Masse geprägt haben: Zum einen entdeckte der Pariser Mechaniker Jacques Louis Conté um 1795 die Wirkung einer Mischung von pulverisiertem und gereinigtem Graphit mit geschlämmtem Ton und ließ im selben Jahr in Paris seinen „Conté-crayon“ patentieren, für den sich in Unkenntnis der tatsächlichen Grundstoffe die Bezeichnung „Bleistift“ einbürgerte. (Koschatzky 2003, S. 50f.). Zum anderen experimentierte der Dresdener Professor Jacobus Crescentius Seydelmann bereits 1778 in Rom und gilt als „Erfinder“ der Sepia als Zeichenflüssigkeit (Koschatzky 2003, S. 142f.). Schließlich war mit Adrian Zingg ein virtuoser Landschaftszeichner als Professor an der Dresdener Akademie beschäftigt. Wohl war Friedrich in diesem Umfeld künstlerisch tätig, zugleich sei jedoch betont, dass er selbst die Natur als seine „beste nie irrende Leiterin und Lehrerin“ ansah. In einer solchen Zeit des Experimentierens, Suchens und Ausprobierens ist das Karlsruher Skizzenbuch von 1804 entstanden und ist zugleich ein Meilenstein auf einem Weg, den Caspar David Friedrich noch Jahre ausschließlich auf dem Gebiet der Zeichenkunst gegangen ist. Erst 1807/08 sollte er sich auch der Ölmalerei zuwenden.

Mit dem Berliner Blatt „Das Kreuz im Gebirge“ (Abb. 17 G 504) und dem Weimarer Blatt „Hünengrab am Meer“ (Abb. 1) schuf Caspar David Friedrich bereits 1806/07, zwei Landschaftsdarstellungen, und zwar innerhalb seiner Zeichenkunst, mit denen es ihm erstmals in aller Komplexität gelang, sowohl das klassische Raumgefüge bestehend aus Vorder-, Mittel-, und Hintergrund aufzubrechen als auch den individuell geprägten Landschaftsraum als Ganzes aus einer Vielzahl von Einzelstudien „zusammenzusetzen“.
Mit Blick auf den Stellenwert, der den Blättern des Karlsruher Skizzenbuches von 1804 im Gesamtwerk von Caspar David Friedrich zukommt, wird eines schnell deutlich: Die von Friedrich hier gezeichneten Bäume gewinnen in zunehmendem Maße an dem, was später nahezu für jeden von Friedrich gezeichneten Baum gilt und was man in seiner Gesamtheit am ehesten als die Darstellung von „Baumindividuen“ bezeichnen könnte. Bestes Beispiel hierfür ist die „Eichenstudie“ (Abb. 6 G 392). Hierbei handelt es sich um die Studie einer laublosen Eiche, genauer gesagt, um den oberen Teil eines Eichenbaumes mit seinen fast ausschließlich nach links wachsenden Ästen, während von den übrigen Ästen nur noch Stümpfe verblieben sind. Unter den Baumstudien des Karlsruher Skizzenbuches von 1804 ragt diese Eichenstudie insofern hervor, als sie mit sparsamsten zeichnerischen Mitteln, nämlich einer effizienten Hell-Dunkel-Verteilung und einer akzentuiert gezeichneten Lineatur, eine ungleich stärkere räumliche Präsens des Baumes bewirkt, als in den meisten anderen Baumdarstellungen. Caspar David Friedrich hat diese frühe Eichenstudie nicht weniger als viermal für die Schaffung anderer Werke verwendet, und zwar für die Eiche links in seinem in Dresden aufbewahrten Ölbild „Hünengrab im Schnee“ (Abb. 2), für die Eiche rechts neben der Ruine in seinem in Berlin aufbewahrten Ölbild „Abtei im Eichwald“ (Abb. 3) und für sein ehemals in Berlin aufbewahrtes Ölbild „Klosterfriedhof im Schnee“ (Abb. 4), wo sich die frühe Studie in der rechten Eiche im Vordergrund wiederfindet. Zudem hat Friedrich den mittleren und den unteren nach links wachsenden Ast der Eichenstudie aus dem Karlsruher Skizzenbuch von 1804 für die Weimarer Sepia „Hünengrab am Meer“ (Abb. 1) verwendet.

Dass es sich bei diesen Werken in drei Fällen um Hauptwerke von Caspar David Friedrich handelt und dass das vierte Werk als Ursprung seiner berühmten Kompositionstechnik der Kompositlandschaften gilt, adelt nicht nur diese frühe Baumstudie, sondern wirft auch ein Licht auf die Bedeutung, die seine Skizzenbücher zeitlebens für ihn hatten.

Zum Vergleich, die erwähnten Bilder und Zeichnungen:

Abb. 1 - Hünengrab am Meer
Abb. 8 - Kleiner Baum. 25. April, G 388 (SKIZZENBUCH)
Abb. 6 - Eichenstudie, G 392 (SKIZZENBUCH)
Abb. 13 - „Kleiner Baum / den 13. April / 1804“, G 384 (SKIZZENBUCH)
Abb. 14 - Landschaftsstudie, G 407 (SKIZZENBUCH)
Abb 15 - Mittelgebirgslandschaft mit Brücke und Kapelle, G 356 (DRESDEN)
Abb. 16 - Eingang im Kloster Heilig Kreuz in Meissen (HAMBURG)
Abb. 17 - Kreuz im Gebirge (BERLIN)

Allgemeine Verweise (im Text blau):
G 383 ff. - acht Seiten im Skizzenbuch, die laviert sind
G 327, G 336 - Verweis auf frühere Zeichnungen
G 240 ff. - Verweis auf Mannheimer Skizzenbuch
G 100 ff. und G 165 ff - Verweis auf Berliner Skizzenbücher
G 100 ff. und G 165 ff - Verweis auf Kleines Skizzenbuch II mit ebenfalls lavierten Zeichnungen